„Jegliches Lernen ist nur ein Erinnern.“ Dieser Satz hat mich tief berührt, denn uns berührt immer das am meisten, was wir eigentlich schon wissen. Wenn wir die Überzeugung dieser Aussage teilen können,…können wir nicht umhin, den Menschen mit neuen Augen anzuschauen. Unter diesen Umständen müssen wir zum Beispiel den Begriff „Begabung“, den man für Künstler so gern anwendet, vollkommen neu definieren. Es gibt sie gar nicht! Es gibt nur Menschen, die sich mehr oder weniger erinnern. Hier wird, wenn wir diesen Satz vollkommen begreifen, auch die Arbeit eines jeden Lehrers einsetzen: Er sollte lediglich helfen, an die Erinnerung zu gelangen. Dies ist seine einzige und wahrhaft große Aufgabe. Es kann vorkommen, dass ein Schüler von sich aus ein viel größeres Erinnerungsvermögen mitbringt, als es dem Lehrer selbst gegeben ist. Es kann auch vorkommen, dass der Schüler einen ganz anderen Bereich seiner Erinnerungen erfahren möchte, als Lehrer und Schüler am Anfang ihrer Zusammenarbeit ahnen konnten. All diese Möglichkeiten dürfen von einem Lehrer nicht eingeengt, oder gar unterdrückt werden. Sollte er dies tun, verurteilt er seine Schüler zum Nicht Erinnern und aus einem möglichen Genie wird ein unbewusstes Wesen….. Deshalb kann am Ende dieses Abschnittes auch an einen bekannteren Ausspruch erinnert werden: „Wir werden alle als Genie geboren und sterben als Kopien.“
– Irina Jacobson: „Klavierspielen mit der Seele“
Dieser Beitrag möchte eine Schule vorstellen, die das Lernen endlich wieder zu dem macht, was es bewirken sollte: Freude und Lust auf mehr! Wie auch Maria Montessori (1870-1952) bereits erkannte, dass jedes Kind selbst weiß, was es lernen möchte, hat der russische Pädagoge und Musikprofessor Michail Petrowitsch Schetinin (1944-2019) in Anlehnung und Tradition an sein großes Vorbild, seinem russischen Landsmann A. Makarenko (1888-1939) alle Paradigmen der modernen westlichen Pädagogik quasi auf den Kopf gestellt und damit ad absurdum geführt. Dass Schetinin seither für die Agenda der Marktwirtschaftler zu einem Problem wurde, wundert nicht, so auch nicht die ewig gestrigen Versuche, ihn in eine radikale Ecke zu stellen. In der Folge habe ich einige sehenswerte Beiträge über diese Schule zusammengestellt, deren Prototyp im Kaukasus am Schwarzen Meer, in Tekos, von Schetinin ins Leben gerufen wurde. Viel Freude und Inspiration beim anschauen.
Die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler ist da nicht so, dass der Lehrer über dem Schüler steht, sondern, dass sie sich auf einer Ebene treffen. Und der Lehrer weiß, dass er nicht alles weiß, oder „mehr“ weiß als das Kind, sondern dass es mindesten gleich ist, wenn nicht auch anders herum, und zwar, dass der Lehrer oder die Lehrerin auch vom Schüler lernen kann. Das ist dort ein Prinzip. Der Schulleiter hat, glaube ich einmal gesagt – das habe ich in einem früheren Interview einmal gehört – , dass nur jemand dort unterrichten darf, der weiß, dass das Kind schon alles weiß.
– Iris im Video oben (5:35 – 6:15)
Eine informative Dokumentation mit eingefügten erklärenden Kommentaren von Irina Ziegelhagel, die in Schetinins Schule deutsch unterrichten durfte.
Richard Kandlin, ehemaliger Schetinin-Schüler, mit einem Vortrag über das zukunftsweisende Schulprojekt Schetinins.
Der russische Musikprofessor Mikail Schetinin hat in einem abgelegenen Dorf im Kaukasus mit vielen Schülergenerationen völlig neue holistische Lernmethoden entwickelt. Sie beruhen auf einer Haltung bedingungsloser Achtung vor jedem Einzelnen und dem Wert der Gemeinschaft. In einem freien Miteinander entfalten die Kinder in kleinen, altersgemischten Gruppen alle ihre Fähigkeiten und Talente und entwickeln eben dadurch ein Bewusstsein der Verantwortung für die gesamte Schöpfung.
– erläuternder Text zum YouTube-Video oben
Interview mit Irina Ziegelhagel.